Von Klaus Ludwig Helf
Michael Wolffsohn: Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf. Deutscher Taschenbuch Verlag München 2015
Staaten zerfallen, Bürgerkriege und Chaos breiten sich aus; Terroristen und selbsternannte Staatschefs besetzen die entstehenden Lücken. Was sind die Ursachen dieser Zerfallsprozesse, welche wirtschaftliche Folgen sie für Deutschland, Europa und die Welt haben, welche Rolle spielt die Erdöl-, Erdgas- und Wasserpolitik dabei? Welche Auswege und Lösungen kann es geben und wie sieht der politische Entwurf aus, der den Weltfrieden sichern könnte?
Michael Wolffson versucht in diesem Buch über die Alternativen zu den herkömmlichen Denkweisen und der traditionellen Politik nachzudenken, die diesem Ziel des Weltfriedens offensichtlich nicht näherkommen können. Gleich zu Beginn des Bandes räumt er allerdings ein, dass der gewählte Buchtitel mehr verspreche als der Autor halten könne, weist aber darauf hin, dass Frieden seit Immanuel Kants philosophischem Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1795) immer „mehr Sehnsucht als Wirklichkeit“ geblieben sei.
Michael Wolffsohn (*1947 in Tel Aviv) ist ein Historiker und Publizist. Er stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie, die 1939 vor den Nazis nach Palästina fliehen musste. Rückkehr nach Deutschland 1954. Von 1981 bis 2012 war er Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehruniversität in München; er publizierte über 30 Bücher, zuletzt „Wem gehört das Heilige Land?“ und hat regelmäßige Veröffentlichungen in nationalen und internationalen Medien.
Für das Entstehen der meisten großen Konflikte und Kriege in der Welt stellt Wolffsohn, als Ergebnis seiner Analysen folgende Diagnose: Das Identitätsbedürfnis der Menschen ergebe sich aus einem doppelten evolutionsbiologischen Grundmuster, das man akzeptieren müsse: „Sofern Menschen nicht manipuliert, also missbraucht werden, streben sie nach Selbstbestimmung. Sowohl als Individuum, als auch als Kollektiv. Menschen wollen politische Teilnahme und Teilhabe. Insbesondere wollen sie ihren Alltag selbst gestalten…Sie wollen ihr ganz eigenes Leben leben, in ihrer, der eigenen Gemeinschaft. Gleichzeitig wollen sich viele Menschen auch abkapseln, abgrenzen gegen andere: ethnisch, sprachlich, kulturell, religiös oder national“ (S.8).
Man könne den «Neuen Menschen« nicht erschaffen, sondern müsse Mittel und Wege finden, um zu verhindern, dass diese Abkapselung Konflikte oder gar Kriege anheize. Ohne Selbstbestimmung rebelliere oder revoltiere der Mensch früher oder später.
Nationalstaaten sind Totgeburten
In der westlichen Welt werde seit dem 19. und 20. Jahrhundert der Nationalstaat als Grundlage für die kollektive Selbstbestimmung betrachtet. Insbesondere Staaten, die nach dem ersten Weltkrieg und später im Zuge der Entkolonialisierung entstanden sind, seien meistens Totgeburten: „Unsere Staatenwelt ist ein Kunstprodukt. Sie ist eine Kopfgeburt und als Kopfgeburt eine Totgeburt. Deshalb zerbröselt ein Staat nach dem anderen. Die Welt ist aus den Fugen- und merkt es nicht“ (S.18).
Der globale Staatenzerfall habe seine reale Ursache in einem „unsinnigen Konstruktionsprinzip“, denn Geografie und Demografie seien meist nicht deckungsgleich. Die Grenzen vieler Staaten- so Wolffsohn- seien das Ergebnis reiner Willkür, mit dem Lineal grobschlächtig gezogen im Rahmen der z.B. Entkolonialisierung oder wegen eigennütziger, selbstsüchtiger weltpolitischer Interessen, die zunächst kaum etwas mit der Bevölkerung vor Ort zu tun haben. Aus der deutsch-europäischen Geschichte nennt Wolffsohn drei klassische Beispiele die zu Konflikten und Kriegen geführt haben: Elsass-Lothringen, Deutschland /Österreich und das Sudetenland.
Das politische Denken orientiere sich am Völkerrecht und dieses wiederum gründe auf dem Nationalstaatsgedanken. Wolffsohn vertritt in seinem Band die These, dass der traditionelle Nationalstaat ausgedient habe und durch föderative Strukturen ersetzt oder zumindest ergänzt werden müsse: „Staaten sind wie Töpfe. Wenn Topf und Deckel nicht zueinander passen, sind sie mehr schlecht als recht zu gebrauchen. Welchen Deckel braucht welcher Topf? Politisch gefragt: Welchen staatlichen Rahmen, welchen staatlichen «Überbau« braucht diese oder jene Gesellschaft, braucht diese oder jene «Basis«? (…)
Das Zauberwort heißt: FÖDERALISMUS
(S.22). Die Zukunft der heute zerbröselnden Staaten lasse sich aus deren Demografie, Geografie und nicht zuletzt aus deren Vergangenheit ableiten: „Wenn sich die Vergangenheit in oder an der Gegenwart rächt, wird aus der Geschichte blutige Politik. Dann sind auf einmal die Toten quicklebendig“ (S.26). Erst nach der genauen historisch-demographischen Analyse der Situation eines Landes könne man eine jeweils passende Staatsform finden, die auch Minderheiten die Möglichkeiten zur eigenen Interessenvertretung lasse.
Nur wenn alle ethnisch-religiösen Gruppen ein selbstbestimmtes Leben in einem garantierten föderalisierten staatlichen Rahmen führen könnten, sei Frieden möglich. Nur im Föderalismus sei es möglich, jedem Volk und den unterschiedlichen Gruppen darin Selbstbestimmung zu gewähren. Das sei schließlich das Ziel für alle Menschen, egal ob aus ethnischen oder religiösen oder kulturellen Gründen.
Der entscheidende Punkt sei- so Wolffsohn in seiner Argumentation- die Gewährung von Selbstbestimmungsrechten für Minderheiten und nicht die Herrschaft einer Mehrheit über die anderen; ansonsten zerbrechen irgendwann die Staaten wie die aktuellen Kriege und Krisen zeigten z.B. in Afghanistan, Syrien, im Irak, in Afrika und an vielen anderen Orten auf der Welt. Fast überall auf der Welt seien -von der Frühgeschichte der Menschheit bis heute- Mischgesellschaften entstanden: „Manche vermischten sich bis zur Ununterscheidbarkeit, manche, die meisten, bewahrten, freiwillig oder nicht, ihre Unterscheidungsmerkmale. Nicht von diesen Fakten ist die gegenwärtige StaatenUNordnung geprägt, sondern von der Fiktion der Einheitlichkeit der jeweiligen Nation auf dem jeweiligen Gebiet“ (S.13).
Krisenregionen heute
Die fünf großen Krisenregionen der Gegenwart liegen für Wolffsohn auf dem Balkan, an Russlands Rändern, im Nahen und Mittleren Osten, in China und in seinen Nachbarstaaten und in Afrika. Aber auch in Europa könne es bald turbulent zugehen. Zum einen liege dies geopolitisch an der Ressourcenabhängigkeit, zum anderen gebe es auch in Europa starke Minderheitenkonflikte wie z.B. bei den sezessionistischen Bewegungen in Katalonien oder Schottland. Zum anderen liege auch ein starkes Krisenpotenzial vor allem bei den muslimischen Einwanderern, die irgendwann eine politische Repräsentation einfordern könnten; diese würden sich in keinster Weise so defensiv-assimilatorisch verhalten werden wie die Juden in den letzten Jahrhunderten.
Wolffsohn analysiert in seinem Band kenntnisreich und detailliert die Hintergründe und Probleme in den aktuellen fünf Krisenregionen der Welt, bietet konkrete Lösungsvorschläge an und liefert viele anregende und tiefgründige Denkanstöße, die sicher Anlass zu kontroversen Diskussionen sein werden.
So schlägt er z.B. vor, die Ukraine in eine Bundesrepublik umzuwandeln: im Osten das Bundesland Russisch-Ukraine einzurichten, im Westen Kiew-Ukraine und das Bundesland Krim. Sowohl der israelischen als auch der chinesischen Regierung werde es langfristig nicht gelingen, durch Druck, Macht, Gewalt oder Siedlungspolitik der einheimischen Bevölkerung den Selbstbestimmungswillen zu nehmen; dies führe friedenspolitisch in eine Sackgasse. So siedele die gegenwärtige Führung der Volksrepublik China massenweise Han-Chinesen in Tibet und im nordwestlichen Xinjiang an. Für die Lösung der Konflikte Chinas mit den Nachbarn schlägt Wolffsohn dagegen vor: „Nur eine Bundesrepublik Myanmar kann friedlich überleben sowie Öl und Gas sicher exportieren; nach China ebenso wie über Bangladesh (!) nach Indien“ (S.168). Die muslimische Rohingya-Volksgruppe sei eine der weltweit am meisten verfolgten Minderheiten und wolle keinen eigenen Staat, aber selbstbestimmte Anerkennung in einem föderalen System.
Für den Nahen Osten entwickelt Wolffsohn jenseits eines Zwei-Staaten-Modells ein personal-territoriales Mischsystem eines föderalen Selbstbestimmungsmodells vor, in dem „Juden Juden, Palästinenser Palästinenser und Israel weiter der Jüdische Staat oder Staat der Juden…sein und bleiben könnten“ (S.68). Für alle Beteiligten sei eine enge funktionale und staatenbündische Verzahnung von Gesamt-Palästina oder Teilen Palästinas mit Israel zu einem Staatenbund (Konföderation) «Israel-Palästina« sinnvoll und dauerhaft friedenstiftend.
Für Großbritannien, Frankreich, Belgien und auch für Spanien mutmaßt er eine Weiterentwicklung zum Bundesstaat oder zum Staatenbund.
Afghanistan – Debakel
Für die deutsche Sicherheits- und Außenpolitik fordert Wolffsohn eine „Denkpause“: „Nach dem Afghanistan-Debakel mit humanitärem Hallo nach Nahost, Afrika und Irgendwo zu ziehen, ist unverantwortlich. Wann fängt wer an, richtig zu denken und richtig zu handeln? Solange das nicht geschieht, ist der Weg zum Weltfrieden nicht einmal in Sicht“ (S.190). Humanitär zu intervenieren, um Menschenleben zu retten, sei grundsätzlich richtig: „Falsch wird es, wenn ohne militärische und politische Strategie interveniert wird. Humanitäre Motive dürfen zudem nicht durch machtpolitische und opportunistische Erwägungen relativiert werden. Das aber geschieht derzeit, und das ist zynischer Etikettenschwindel“ (S.188/189).
Michael Wolffsohn plädiert in seinem Band für ein radikales politisches Umdenken, weg vom traditionellen Staatenmodell, hin zu föderativen Systemen; er entfaltet seine zentrale These historisch-faktengesättigt, kenntnisreich und gegenwartsanalytisch; er argumentiert stringent und nachvollziehbar. Es ist ein kluges, mutiges und mutmachendes Buch, gut lesbar geschrieben gegen den politischen Mainstream; man wünscht ihm viele Leserinnen und Leser, vor allem auch bei den Strategen und Vor-Denkern in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Klaus Ludwig Helf (*1950) ist Sozialwissenschaftler und Journalist, Medientrainer und Moderator. Er lebt und arbeitet in Saarbrücken, zurzeit in der Studienförderung und als Dozent an der Fachhochschule.
Davor war er in folgenden Bereichen beschäftigt: politische und kulturelle Bildungsarbeit, Medien-und Kommunikationstraining, Medienkompetenz, Medien-und Filmdidaktik, cross-mediale journalistische Arbeiten, Medienpolitik, Bürgerkommunikation (freie Radios und Offene Kanäle)…Publikationen.