Von Klaus Ludwig Helf
Claus Leggewie: Politische Zeiten. Beobachtungen von der Seitenlinie. C. Bertelsmann Verlag München 2015.
Zu seinem 65. Geburtstag Ende März dieses Jahres hat der Kulturwissenschaftler und Publizist Claus Leggewie seine Autobiografie geschrieben. Dabei hat er, nach eigenen Angaben „Mosaiksteine einer politische Bildung und Selbsterziehung zusammengefügt“. Er benennt die Quellen seiner Erkenntnisse abseits von Büchern oder Theorien: „Wie Geschichte läuft, habe ich eher aus eigenem Erleben und bisweilen buchstäblich im Tumult der Straße gelernt“ (S. 11); seine Erinnerungen habe er fast in einem Rutsch geschrieben, diese dann doch anderen, mehr oder weniger befreundeten Zeitzeugen zur Korrektur vorgelegt.
Claus Leggewie (*1950) ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) in Essen und des Centre for Global Cooperation Research in Duisburg. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften und Geschichte in Köln und Paris lehrte er u.a. als Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie an der Universität Paris-Nanterre und der New York University. 2001 gründete er das Zentrum für Medien und Interaktivität an der Universität Gießen; seit 2007 leitet er das KWI und seit 2008 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU); seine Forschungsschwerpunkte sind KlimaKultur, InterKultur und ErinnerungsKultur, politische und wissenschaftliche Kommunikation und Demokratisierung.
Von der Jungen Union zum Maoisten
Nach den neun umfangreichen Kapiteln folgen eine originelle Zeittafel (1950 – 2014) als „Chronik eines Weltkindes“ zur Orientierung, ein Register als roter Faden zwischen Themen, Personen und Orte und der Bildnachweis für zahlreiche Illustrationen und Fotos. Leggewie erzählt ab 1959 weitgehend chronologisch, schweift aber häufig ab in Rück- und Vorausblicke, was die Lektüre manchmal etwas mühsam macht. Die einzelnen Kapitel können aber durchaus für sich gelesen werden. Leggewies Biografie ist Ausdruck und Zeugnis einer lebenslangen Politisierung, wie sie viele aus seiner Generation gelebt und erlebt haben. Es ist eine wechselhafte, spannende Biografie, die mit Hakenkreuzschmierereien an den Wänden der Synagoge in Köln beginnt (Weihnachten 1959); weitere Stationen sind u.a. die blutig niedergeschlagene Demo von Algeriern in Paris (1961), Mitgliedschaft in der Jungen Union, Maoist, dann Studentenbewegung und Studium in Köln und Paris, dann Reisen u.a. nach New York, Algerien und Israel und später über den ganzen Erdball. Er berichtet über seine Begegnungen und auch Auseinandersetzungen mit vielen Persönlichkeiten der Zeitgeschichte. Vieles betrachtete er „von der Seitenlinie“ als distanzierter Beobachter; er mischte sich aber auch immer wieder politisch ein.
Ehemalige Nazis im Wissenschaftsbetrieb
Leggewie war und ist nie Mainstream gewesen- das macht ihn und seine Analysen so erfrischend anregend, manchmal auch anstrengend; so habe er sich „nie an ein linkes (oder rot-grünes) Lager gekettet, also im engsten Sinne Partei ergriffen“ (S.41), sondern er versteht sich selbst als einen „antikommunistischen Linken, katholisch fühlenden Agnostiker, angeschlossenen Außenseiter und respektvollen Grenzverletzer“. Ein taz-Kritiker bezeichnete ihn als „Rockstar des politischen Denkens“, der sich immer wieder kritisch und kontrovers in gesellschaftliche Debatten einmischte und sich nicht im akademischen Elfenbeinturm einschloss so z.B. bei der Aufdeckung ehemaliger Nazis im aktuellen Wissenschaftsbetrieb, beim Klimawandel und beim Thema Einwanderung. Davon berichtet er ausführlich in diesem Buch und es macht Spaß sich in diese Debatten einzulassen, Hintergründe aus anderen Perspektiven zu erfahren und gibt Mut und Hoffnung zu widerständigem Denken und Handeln. Zur APO, die er noch in den Endzügen unmittelbar erleben durfte, hat Leggewie kritische Anmerkungen: „Das ambivalente Verhältnis zur Gewalt ist eine Leiche im Keller der APO, der laxe Umgang mit Pädophilie die andere“ (S.207). Im Sozialistischen Büro spielte Leggewie eine bedeutende Rolle, blieb aber immer ein eigenständiger Kopf, lehnte Kadaver-Gehorsam und Denkverbote ab und stand André Gorz und Daniel Cohn-Bendit persönlich und politisch sehr nahe.
MultiKulti mit Cohn-Bendit
Mit seiner Publikation „MultiKulti“ schuf Leggewie 1990 die Grundlage für eine Multikulturalismus-Politik in Deutschland; bekannte Co-Autoren waren Heiner Geißler und Daniel Cohn-Bendit. War Multikulti anfangs ein „Schmusewort“ so war es aber bald in allen politischen Lagern verpönt, aber immerhin erschien der Band 2012 in der dritten etwas erweiterten Auflage. Darin findet man keine Utopie oder Staatsideologie sondern den „Versuch einer soziologisch nüchternen Bestandsaufnahme der laufenden Pluralisierung… und Wegbereitung einer republikanischen Reform“ der Staatsbürgerschaft; es wurde auch nicht die Einführung der Scharia gefordert, sondern die republikanische Integration der Verschiedenheit, ein radikaler Mittelweg, weder „plump fremdenfeindlich noch überkritisch-antideutsch“: Dazu gehörten neben der Abkehr vom antiquierten Staatsangehörigkeitsrecht eine zukunftsfeste Arbeits- und Sozialpolitik, die praktische Gewähr der im Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit sowie Bildungsanstrengungen aller Art. Und wir haben Probleme, die heute unter dem Stichwort `Parallelgesellschaft` notiert werden, recht genau vorhergesagt“ (S.275).
Der Fall Schneiderschwert
Leggewie deckte in den 90er Jahren den Fall Schneiderschwert auf als „Modell einer realen Selbstentnazifizierung“ wie es öfter vorkam in der unmittelbaren Nachkriegs-BRD; er exemplifizierte die gegen heftige Widerstände am Beispiel des SS-Hauptsturmführers Hans Schneider, der den „germanischen Wissenschaftseinsatz“ von 1940 bis 1942 leitete: „Er legte seinen Namen ab und durchläuft sukzessive eine christlich-abendländische, eine humanistische, eine existenzialistische und schließlich eine linksliberale Phase“ (S. 308). Als Hans Schwerte (angeblicher Vetter Schneiders) tauchte er 1945 auf, wurde zu einem renommierten Germanistikprofessor, Rektor der TU Aachen und Ministerberater und nahm am öffentlichen Geistesleben als Linksliberaler teil. Auch Hermann Glaser habe ihn als ideologiekritischen Germanisten geschätzt. Dabei sei Schwertes SS-Vergangenheit und Doppelidentität in Kreisen deutscher Nachkriegsgermanisten wohl bekannt gewesen, aber im „breiten Strom diskreter Mitwisserschaft“ und regelrechter NS-Seilschaften gedeckt worden. Wie Hans Schwerte rückte Leggewie auch bekennenden Rechtsextremisten wie Armin Mohler, Franz Schönhuber oder Jörg Haider öffentlich auf die Pelle und „grillte“ sie förmlich – auch darüber kann man in dieser Biografie lesen. Leggewie ist nicht nur Sozialwissenschaftler, sondern auch Fan von Fußball, Autos und Rock-und Pop-Musik, deren ausgewählte Texte an passenden Stellen im vorliegenden Band eingestreut sind.
Aus seinen Erfahrungen in den USA und zurück in Deutschland hat Leggewie eine sehr kritische Einschätzung der Studienreformen in Deutschland gewonnen: „Die Exzellenzinitiative hat eine Zweiklassengesellschaft im Universitätsbetrieb entstehen lassen, die Abhängigkeit von Drittmitteln führte zur Bürokratisierung der Hochschulen, und der Bachelor-Abschluss hat sein Versprechen – sichere Qualitätsjobs auch nach einem anspruchslosen Kurzstudium – nicht eingehalten“ (S.377).
Man könnte noch vieles mehr berichten aus diesem spannenden Band als Quelle gelebter Zeitgenossenschaft und als Anreger für zukunftsweisende Projekte. Wie geht´s weiter mit Claus Leggewie? Ein Leben in entspannter Altersmilde (Sortieren, Nachholen) oder als der „letzte Rock´n roller unter den Institutsleitern“ (nur ´mal schnell die Welt retten) lehnt er ab; er neigt eher zu der folgenden Haltung: dem Durchwursteln entgegenstemmen, zur Verfügung stehen, teilnehmen und etwas zurückgeben. Man darf also gespannt sein.
Klaus Ludwig Helf (*1950) ist Sozialwissenschaftler und Journalist, Medientrainer und Moderator. Er lebt und arbeitet in Saarbrücken, zurzeit in der Studienförderung und als Dozent an der Fachhochschule.
Davor war er in folgenden Bereichen beschäftigt: politische und kulturelle Bildungsarbeit, Medien-und Kommunikationstraining, Medienkompetenz, Medien-und Filmdidaktik, cross-mediale journalistische Arbeiten, Medienpolitik, Bürgerkommunikation (freie Radios und Offene Kanäle)…Publikationen.