Was haben Porto und Görlitz gemein? Die westlichste und die für eine Zeit lang östlichste Stadt Westeuropas? In Filmen des Regisseurs und Kameramanns Fred Kelemen werden sie eins – und gleichzeitig auch irgendein beliebiger Ort in unserem Abendland. Orte in denen wir Menschen verweilen und im Kern gleiche Empfindungen, Probleme, Situationen durchleben. In denen sich selbst Menschen in Japan erkennen und bei Filmvorführungen in Tokio weinen! Die Welt Kelemens kennt eben keine Grenzen. Wie die Filmkunst selbst auch. Seine Filme sind universell. Sie sind mutig. Sie sind manchmal lang, langsam, sie erfordern Geduld und fordern den Zuschauer auf, sich mit unbequemen Wahrheiten auseinanderzusetzen. Dass das Publikum auch solche unkommerziellen, anspruchsvollen Filme durchaus zu schätzen weiß, beweist der Publikumspreis des Filmfestivals “Max-Ophüls-Preis” 1995 in Saarbrücken für Kelemens Film VERHÄNGNIS, für den er im gleichen Jahr auch den Deutschen Filmpreis erhalten hat.
Im Sommersemester 2013 ist Fred Kelemen der erste Gastprofessor der Hochschule der Bildenden Künste Saar aus dem Bereich Film. Diese Gastprofessur ist nach dem in Saarbrücken geborenen Regisseur Max Ophüls benannt und wird aus dem Kreis ehemaliger Preisträger/innen des MOP Festivals besetzt. Für das erste Kennenlernen hatte das Saarbrücker Kino 8 ½ gesorgt, indem es eine Woche lang eine Werkschau von Kelemens Filmen mit der Überschrift „Im Zeitkristall von Dunkelheit und Licht“ gezeigt hat. Professor Kelemen war die ganze Zeit anwesend und führte nach jeder Filmvorstellung Gespräche mit den Zuschauern. Schon am ersten Abend verzauberte er das Publikum so, dass sich eine neugierige, diskussionsbereite Gruppe gebildet hat. Diese nutzte die seltene Gelegenheit mit einem großen Künstler eine Woche lang Gespräche führen zu können. Professor Kelemen wirkt zurückhaltend und melancholisch. Er ist ein Mensch, der leise spricht, aber mutig die Wahrheit sagt. Und er sparte nicht mit Ausführungen über Filmthemen, Kamera- und Set-Arbeit, Musik, Menschen… Das Publikum im Kino 8 ½ beeindruckte er mit der handwerklichen und intellektuellen Sorgfalt, die er für seine Filme aufbringt. „Man sollte sich die Szenen vorstellen und nicht darüber nachdenken: das wichtigste ist, dass man immer aus dem Kern dessen was man erzählen möchte Szenen und Bilder schafft. Und immer an sich glauben, nie zweifeln!“, so Kelemen.
Bevor er 1989 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin das Studium der Regie und Kamera angefangen hat, studierte er Malerei, Musik, Philosophie, Religions- und Theaterwissenschaft und arbeitete als Regieassistent an verschiedenen Theatern.
„Diese künstlerische Welt war seit meiner Kindheit eine natürliche Umgebung für mich. Ich war schon immer neugierig, wollte viel wissen. Ich habe immer viel gemalt und habe mich früh auch für Musik interessiert.“
Diese frühe Prägung spiegelt sich in einer Reihe bemerkenswerter Filme wieder. Weitere Fragen und Antworten haben sich aus den verschiedensten Gesprächen mit Professor Kelemen während seines Aufenthalts in Saarbrücken ergeben:
Der Film „Frost“ erzählt die Geschichte einer jungen Mutter, die mit ihrem kleinen Sohn vor dem gewaltsamen Vater flüchtet. Haben Sie da auch eigene Erfahrungen verarbeitet?
„Es sind Kindheitserfahrungen vieler Menschen. Während des Drehs habe ich mich mit den Mitgliedern des Teams und den Schauspielern viel über Kindheit unterhalten, und im Film ist keine Szene, der nicht eine Erfahrung von mindestens von einem von uns zugrunde lag. Das Kind ist Opfer seiner Eltern, der verzweifelten Gewalt seines Vaters und der Unfähigkeit der Mutter, einen Ausweg zu finden. Dabei geht es auch um das Erwachsenwerden. Die Erkenntnis, dass die Eltern auch nicht alles wissen und einen nicht immer schützen können. Als Kind kenne ich diese Situation: wenn man die Mutter auf dem Markt aus den Augen verliert und wenn es auch nur für 10 Minuten ist, dann hat man das Gefühl, sie sei für immer verschwunden, oder wenn sie aus der Wohnung gegangen ist, um etwas zu erledigen, und man ist für vielleicht eine ½ Stunde alleine, dann hat man als Kind sofort das Gefühl sie komme nie mehr wieder.“
Es geht hier aber auch um die Unfähigkeit der Menschen, einen Ausweg zu finden. Sie fühlen und erkennen im ersten Schritt, dass die Situation schrecklich ist, sie schaffen es eventuell auch den zweiten Schritt zu tun und dem zu entkommen, aber eine Vision zu entwickeln und die auch noch umzusetzen gelingt den meisten Menschen nicht.
Diese Mutter geht auch zu einem Ort aus der Vergangenheit, findet dort aber nicht was sie sucht, weil man die Orte, die man einmal verlassen hat, nie wieder findet. Die Orte der Vergangenheit existieren nicht, weil man nie zu dem Ort aus der Vergangenheit zurückkehren kann. Einfach auch aus der Tatsache, dass die Zeit vergeht, man sich selbst verändert und die Orte sich verändern.
Dieser Film dauert 201 Minuten. Warum?
„Im guten Fall hat ein Film die Länge die er braucht, um das zu erzählen, was er erzählt werden soll. Bei Filmen geht es nicht nur darum, eine Information zu vermitteln. Es geht um Vollzug; dieselbe Information könnte man auch in z. B. 10 Minuten bringen, aber es geht um den Vorgang, um das Stattfinden eines Vorgangs. Sieben Tage in 3, 5 Stunden zu erzählen ist nicht zu lang. In „Frost“ wird die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr gezeigt, eine Zeit der Dunkelheit, all diese Feste, es geht um die Leere, um Einsamkeit, um das Vergehen der Zeit, um ihren Fluss, um das Gehen über die Strecken und das nicht erzählt als Information, sondern es ist ein Vorgang, der statt findet und er dauert, das fängt unter Umständen auch an, schmerzhaft zu sein, man verzweifelt. Die Konzentration des Zuschauers verlagert sich, es geht um das Hinschauen, es geht nicht nur um das Verstehen, sondern auch um das Fühlen. Der Film ist nicht gedreht mit einer Zeitvorgabe. Jede Szene hat ihren Spannungsbogen. Natürlich verstehen wir ganz schnell, um was es geht in einer Szene, aber es geht auch darum, nachzufühlen, es geht darum, das Leben hinter der Information wahr zu nehmen.
Unser Zeitempfinden ist individuell und veränderbar. Meine Art Zeit zu benutzen ist sehr stark von Musik beeinflusst. Von Béla Bartók oder zum Beispiel minimalistischer Musik in den späten Werken von Morton Feldman. Er arbeitet sehr bewusst mit Zeit, mit Pausen, mit der Dauer von Klang und mit Schweigen – so funktioniert auch diese Art von Filmen. Spannung, Empfindung ist auch eine Zeitfrage, jede Szene hat eine eigene Energie und man muss ihr Zeit geben.“
„Der Blick ins Dunkel ist lohnend, denn dort ist Schönheit verborgen“, Fred Kelemen
„Abendland“ erzählt von der Arbeitslosigkeit, Menschen am Rande der Gesellschaft?
„Die Ränder der Gesellschaft zeigen immer mehr von einer Gesellschaft als die sogenannte Mitte. Die Qualität einer Gesellschaft zeigt sich darin, wie es den Menschen am Rande geht. Das stimmt auch regional. Man sieht mehr von Deutschland zum Beispiel in Saarbrücken als in Berlin. Die Ränder sind wie die Haut einer Gesellschaft. So wie die Haut die Grenze unseres Körpers zur umgebenden Welt ist, auf sie ebenso empfindlich reagiert wie auf das, was in unserem Körper geschieht.
In Deutschland definieren sich Männer sehr stark durch Arbeit, so dass der Verlust der Arbeit soziale Deklassierung bedeutet und persönliche Erniedrigung. Es bedeutet, kein vollwertiger Mensch zu sein, es ist eine furchtbare Schande, eine Beschneidung, eine Amputation; nicht nur finanziell sondern auch psychisch, es erzeugt ein Schmerz der sprachlos macht und sich manchmal in Gewalt ausdrückt.“
Und von Liebe und Schmerz….
„Wir Menschen müssen lieben lernen, weil wir es nicht können, deswegen sind da Angst, Verunsicherung, Zweifel. Die Liebe fordert Beweise, der je andere will sie und man selbst braucht auch die Beweise der Liebe. Man will das Gefühl für eine nahe Person überprüfen, man zweifelt auch an sich selbst, an der Bedeutung der eigenen Gefühle für einen anderen Menschen. Es ist immer ein Ringen und Befragen, a Abwägen, Evaluieren; und das ist natürlich ein furchtbar verzweifelter Akt. „Wenn die Liebe möglich wäre…“, sagt eine der Hauptdarstellerin in „Abendland“. Was wäre dann? Ist sie möglich, ist sie nicht möglich? Zumindest wird sie immer wieder versucht, gewagt, und der Schmerz gehört dazu. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich die Fähigkeit zum Lieben schmerzlos aneignen kann.“
Der Film „Glut“ spielt mit den Zuschauern?
„Ich wollte anders erzählen in diesem Film, in dem das Wesentliche nicht sichtbar im Film geschieht, sondern in der Imagination der Zuschauer evoziert wird. Vieles wird angedeutet, Zusammenhänge sind denkbar, ich spiele mit Erwartungen, Fragmentiertes wird vom Betrachter zusammengesetzt. So tun wir es im Leben ständig, wir bekommen Hinweise, Fragmente, und letztlich setzen wir uns unsere Welt aus Andeutungen zusammen und haben ein sehr starkes spekulatives Verhältnis zum Leben. Wenn unsere Erwartungen nicht erfüllt werden, fühlen wir uns ungerecht behandelt, wir verbinden, ziehen Schlüsse und haben Reaktionen basierend auf unseren Spekulationen, die unter Umständen nichts mit der Realität zu tun haben. Klar sehen was ist, das tun wir selten. „Die Welt ist alles. was der Fall ist“, schrieb Wittgenstein, nur wissen wir meistens nicht, was der Fall ist.
Ausgangspunkt des Films sind verschiedene Formen der Schuld. Nicht unbedingt die Schuld, jemandem aktiv etwas Schlechtes getan zu haben, sondern die subtile Schuld der Unterlassung, anders zu handeln als man weiß, dass es richtig wäre. Diese Art von Schuld kennt jeder. Wir begehen sie oft. Man weiß eigentlich was zu tun ist, man tut es aber nicht. Es stellt sich die Frage, wie man damit umgeht. Auch wirft der Film ein Licht auf die durchaus schwierige Situation, in der jemand Augenzeuge des kurt bevorstehenden Suizids einer anderen Person wird, in der man entscheiden muß, zu versuchen den anderen davon abzuhalten oder nicht.
Ich bin nicht sicher, was das Richtige zu tun wäre. Die meisten würden wohl theoretisch behaupten, sie würden versuchen, den anderen vor dem Selbstmord zu bewahren, Doch wie ließe sich diese Intervention moralisch begründen, woher leitet man diese Einmischung in ein fremdes Leben, in den freiwilligen Entschluß eines anderen Menschen ab? Welche ethischen Grundlagen haben unsere Entscheidungen, hat unser Handeln? Schnell bewegen wir uns bei diesen Fragen in metaphysischen, sogar religiösen Bereichen.
Auf den ersten Blick sehen manche Szenen in ihren Filmen so aus, als wurde dort gerade Mal zufällig gedreht. Zum Beispiel in der Metro oder Kneipen.
„Ich überlege mir jede Szene vorher sehr genau, prüfe am Ort das Licht, den Raum, die inszenatorischen und choreographischen Möglichkeiten und die photogene Qualität. Jede Szene, jeder Gang wird vor dem Auslösen der Kamera ausführlich geprobt.
Es gibt beim Drehen keine Konvention, die vorschriebe, dass etwas so sein muss wie es üblicherweise ist. Zum Beispiel ist im Film „Abendland“ in den mit einer Videokamera aufgenommenen Nahaufnahmen eine leichte Deformation zum Beispiel der Gesichter zu sehen, eine Streckung wie auf den Gemälden El Grecos. Dahinter stecken der Gedanke und die Erfahrung, dass die Annäherung an etwas auch immer eine Veränderung verursacht. Es ist eine Illusion zu denken, dass wenn man sich einer Person oder einem Gegenstand nähert, man dieser Person oder diesem Gegenstand auch näher kommt, denn oft beginnt, wem oder was man sich nähert, in diesem Moment, sich zu entziehen.. Nah bedeutet nicht, das Selbe nur näher, sondern anders, verändert. Diese und andere Überlegungen finden ihre konkrete ästhetische Realität, ihre gestaltete Form in den Bildern des Filmes.
Sie haben bisher an 13 Filmen gearbeitet. Wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?
Ich bin dabei, ein Drehbuch für einen Film wieder in eigener Regie zu schreiben. Außerdem bereite ich als Kameramann einen multinationalen Spielfilm in Italien vor, der im Herbst dieses Jahres gedreht werden soll.
Wie sieht es mit der Filmförderung zurzeit in Deutschland aus?
Dazu kann ich wenig sagen, außer, daß meine letzten Projekte nicht gefördert wurden; z. B. weil ich keine Beteiligung eines deutschen Fernsehsenders für einen von mir geplanten Kinospielfilm vorweisen konnte.
Sagt das etwas über die Politik der deutschen Filmförderung aus?
Wie erleben Sie derzeit Europa, auch angesichts der jetzigen politischen Situation in Ungarn?
Ich denke, es gibt ein Problem Europas mit sich selbst. Es scheint für viele Länder schwierig zu sein, die einzelnen nationalstaatlichen Eigenheiten als regionale Charakteristika zu pflegen und sie gleichzeitig in einen europäischem, solidarischen Zusammenhang und die Polyphonie bereichernder Diversität einzufügen, anstatt in altmodischem Nationalismus und tödlichem Rassismus, Antisemitismus, Antiislamismus und sonstige Formen des Menschenhasses zu verfallen.
Sie wurden in die US- Academy of Moving Picture Arts and Sciences berufen. Was bedeutet Ihnen das?
Das ist sicher eine Ehre, die ich sehr zu schätzen weiß. Und es bedeutet, daß entgegen hierzulande hinlänglicher Auffassungen meine Arbeit nicht „nur“ im abschätzig als „marginalen Kreis von Filmkunstfreunden oder -liebhabern“, sondern auch in der sogenannten etablierten Filmwelt wahrgenommen und als wert erachtet wird. Und es zeigt den wohltuend offenen und undogmatischen Blick der Entscheider der AMPAS.
Was hat Fred Kelemen noch gesagt über…
KUNST
Es ist eine Aufgabe von Kunst, immer wieder gegen eine Uniformierung des Denkens anzugehen. Es ist politisch extrem wichtig, bestimmte Gedanken zu formulieren und andere Menschen in diese Gedanken einzubeziehen, Dinge zu thematisieren, die sonst nicht Thema sind, Fragen zu stellen. Kunst ist politisch wichtig, solange sie nicht System-bestätigung betreibt. Aber dann würde ich sie auch nicht unter diesen Begriff rechnen. Kunst ist Widerstand. Kunst, die nur bestätigt, ist nicht notwendig, ist Propaganda, Staatskunst. Konformismus ist schreckliche Enteignung des Einzelnen von sich selbst. In unserer Gesellschaft gibt es einen starken Hang zur Konformität; das geschieht freiwillig. Doch auch wenn der Druck groß sein mag – Widerstand ist immer möglich.
HOFFNUNG
Die Hoffnung ist ein sehr beliebtes politisches Instrument, um die Leute ruhig zu halten und sie zu beherrschen. Die Hoffnung ist eine passive Haltung, die uns in einer wartenden Stellung hält. Wir sitzen und hoffen und warten, und während wir warten, findet das Leben statt und andere handeln und bestimmen unsere Realität. Ich würde bevorzugen, HOFFNUNG mit VISION zu ersetzen. Eine Vision ist mit Energie und Leidenschaft aufgeladen, sie ist nicht passiv, sie fordert ihre Realisierung.
INSPIRATION
Letztlich kann man aus nichts anderem schöpfen als aus erlebtem Leben. Meine Filme sind Bildnisse des Menschen. Ich habe das Bedürfnis von Menschen zu erzählen und von ihrem Leben, und zwar so einfach, so klar und so wahrhaftig wie möglich, weil ich Menschen liebe, weil ich auch einer bin und mich mit ihnen auseinandersetze.
AUSLÄNDER
Ich fühle mich nicht fremd in Ländern außerhalb Deutschlands. Ich fühle mich fremd mit manchen Menschen. Dabei spielt es keine Rolle, woher sie stammen oder wo sie mir begegnen.
Menschliche Wesen können nicht mit nationalen Parametern definiert werden. Jede nationale Definition ist künstlich und unwahr. Jedes menschliche Wesen hat individuelle Expression, Ton und Farbe und kann nicht auf das nationale reduziert werden. Jede Festlegung auf nationale Begriffe, Definitionen usw. ist eine schreckliche Begrenzung der Freiheit von Kunst und Menschen.
GEWALT
Wirklichkeit in einem Film zu reflektieren, ist enorm wichtig.
Auch vermeintlich surreale Bilder in meinen Filmen haben einen realen Hintergrund. Es gibt nichts, das nicht in der Realität Entsprechungen hat. Gesehen, gehört, geschehen auf dieser Erde, von Menschen Menschen angetan, und wenn bisher noch nicht geschehen, dann sicher möglich.
Man muss sich fragen zum Beispiel, wie kommt jemand wie Ulrike Meinhof dazu, nicht mehr an die Kraft des Wortes zu glauben, sondern nur noch an die Kraft von Gewalt?
Ein Mensch kann durchaus an den Punkt kommen, wo er das Gefühl hat, daß er nicht angehört wird, daß er sich wund schreien kann, ohne daß sich etwas ändert und wo er sich sagt: Gut, hier wird man eigentlich nur überhört, hier muß man vielleicht einen anderen Weg gehen.
ANGST
Überall herrscht diese unheimliche Angst. Anstatt das Leben als eine Chance zu begreifen, anstatt aufgrund der Tatsache, daß wir sterben werden, jeden Tag als Möglichkeit zu sehen, etwas zu setzen und zu versuchen, wirklich mit unseren Möglichkeiten umzugehen, ist alles fürchterlich eingegrenzt, klein gemacht, zaghaft. Alle haben Angst, zu versagen, etwas in die Fresse zu bekommen von Kritikern oder wem auch immer. Doch jeder sollte alles versuchen können.
Es ist sehr schwer, keine Angst zu haben. Wenn die Leute keine Angst haben müssten, finanziell nicht überleben zu können, würden sie eventuell auch mutigere Filme drehen.
Furchtlos zu werden, halte ich für eines der wichtigsten Dinge überhaupt im Leben.
ZUSCHAUER
Ich stelle mir den Zuschauer als einen kreativen Partner vor, der nicht sofort die Augen schließt, wenn etwas gezeigt wird, das seinen idealisierten Vorstellungen vom Menschen nicht entspricht. Es gibt genug Menschen, die bereit sind – das sieht man in anderen Künsten – sich einer Anstrengung auszusetzen. Alles, was von mir eine gewisse Anstrengung erfordert, läßt mich wachsen und verhindert Stagnation.
Daß das dem Filmpublikum (in Deutschland) abgesprochen wird, ist seltsam. Man behauptet, daß der Zuschauer ein Idiot ist, der immer das Gleiche sehen will. Das ist für mich ein fürchterlicher Zynismus, weil es den Menschen die Möglichkeit nimmt, etwas anderes zu sehen und sie eindimensional auf einer Ebene gefangen hält.
FILMFÖRDERUNG
Geistig unabhängiges, ungezähmtes, unangepasstes Filmemachen muß unterstützt werden, und die Regisseure müssen unterstützt werden. Film den unkünstlerischen, vorwiegend kapitalistischen Qualitätskriterien zu unterwerfen ist mir zuwider.
DAS ANDERE
Das Misstrauen ist eine große Krankheit, diese Angst vor dem Anderen, und durchzieht die ganze Gesellschaft: Das Andere – das kann eine andere Kultur sein, eine andere Art zu denken, zu handeln. Obwohl es eine Qualität ist, wird es in Deutschland ausgegrenzt und ist in den Gedanken als Gut, als Bereicherung nicht präsent. Hier muß alles gleich sein, kalkulierbar und schnell einzuordnen. Es gibt einen unglaublichen Kontrollwahn. Eine Art kulturellen Faschismus. Film hat nicht Kunst, sondern Massenmedium zu sein. Das ist auch ein Grund dafür, warum die Filmkultur, warum das deutsche Kino so öd ist. Es fehlen Mut, Vertrauen, Wille und Lust, einfach etwas anderes zu probieren. Es gibt ein entsetzliches Klammern an materielle Dinge. Wenn man sich so festklammert, hat man bei jeder Bewegung Angst zu verlieren. Und verliert dabei am meisten.
Ich denke, daß alles, was im Kino das „Andere“ ist, auch politisch wichtig ist. Wenn das „Andere“ als Gedanke verschwindet, trägt das dazu bei, eine Gesellschaft zu uniformieren.
FERNSEHEN, TATORT, KULTUR
Gerade das Fernsehen könnte sich erlauben, andere Formen des Films zu verbreiten. Es ist ja nicht abhängig von Besucherzahlen wie das Kino. Fernsehen könnte ein sehr interessanter weiter Raum sein, in dem viel, sehr viel möglich wäre.
Auch wenn ich mir grundsätzlich vorstellen kann, auch Lust zu haben, einen TATORT zu drehen, glaube ich nicht, daß unbedingt andere sich das vorstellen können und mir anbieten würden. Der Mut zu etwas anderem als dem Gewohnten ist in solchen Formaten nicht verbreitet. Kultur muss ja nicht leicht konsumierbar sein. Es kann ruhig etwas sein, für das man eine gewisse Offenheit und Mühe auf sich nehmen muss, was eine gewisse Anstrengung erfordert.
Als Effekt kann aber der Gewinn sehr groß sein. Von sportlicher Betätigung wissen wir doch, wie erfüllend eine Anstrengung sein kann und wie sehr sie uns hilft, gesund zu bleiben. Auch eine mentale Anstrengung im Bereich der Kultur ist erfüllend und hilft uns, gesund zu bleiben.
AUTOREN-KINO
Diese bestimmte Art von Kino stellt eine aussterbende Kulturart dar. Jeder, der die Kraft hat und das entsprechende Herz, das dafür schlägt, muss sich der Ausrottung dieser Kulturart natürlich entgegensetzen; das ist geradezu eine Pflicht für jeden ernsthaft an der Filmkunst interessierten Menschen mit vollentwickeltem Herzen.
Aus den Interviews mit Erika Richter, Dorothee Wenner, Merthen Worthmann, Till Müller-Edenborn, Ellen Wietstock, Verena von Stackelberg, Sasa Markus. Vollständige Interviews bei www.fredkelemen.com